Logo Heinrich Böll Stiftung Rheinland-Pfalz

Impulsreferat von Manfred Bartl, LINKE HILFE Mainz e. V.

auf Einladung der Heinrich Böll Stiftung Rheinland-Pfalz

am 24. Februar 2015 im Julius-Lehlbach-Haus, Mainz

 

Miteinander oder gegeneinander? Die „Kunden“ und „ihr“ Jobcenter

 

2015 jährt sich die Einführung von „Hartz IV“ zum zehnten Mal, außerdem ist das Grund­recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vor fünf Jahren eingeführt worden. Was zunächst sehr formell klingt, wirkt sich stark auf den Alltag der Betroffenen aus. Doch was bedeutet es wirklich, sich mit der Arbeitsagentur auseinander­setzen zu müssen? Wie wirken sich Vermittlungshemmnisse und Bürokratismus auf die Kontakte zwischen Mitarbeitern der Arbeitsagentur und jenen aus, die nach SGB II leis­tungsberechtigt sind?

 

Manfred Bartl, Mitglied des Vorstandes LINKE HILFE Mainz e. V. und Vorsitzender des Er­werbslosenausschusses von ver.di Rhein – Nahe – Hunsrück, ist selbst erwerbslos und in Mainz an zahlreichen Stellen aktiv, wo es um den Alltag und die Rechte der Bezieher von Arbeitslosengeld II geht. Er berichtet am 24. Februar im Julius-Lehlbach-Haus über die Folgen der Regelungen für die Menschen. Es werden das Nebeneinander von Grundrech­ten und Dienstanweisungen und die Frage nach Fördermitteln und dem Bildungs- und Teilhabepaket thematisiert.

 

Liebe Leistungsberechtigte nach SGB II !

Werte Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Gäste!

Vielen Dank für die Einladung und die Möglichkeit, dieses aus der Öffentlichkeit weitge­hend verdrängte und von den Medien häufig Empathie-befreit dargestellte Thema in den Fokus rücken zu können.

 

Ich danke für die freundliche Vorstellung und möchte einen Punkt daraus noch einmal hervorheben: Ich bin Leistungsberechtigter nach SGB II und damit – in gewisser Hinsicht –  selbst Betroffener dessen, worüber ich heute referieren werde.

 

Darüber hinaus bin ich sowohl in der Sozialberatung – also zum Schutz und Trutz anderer Leistungsberechtigter – als auch in der Agitation gegen Hartz IV – mithin zur Überwindung des Systems – politisch wie auch persönlich sehr aktiv und werde mir – besonders zu Letzterem – auch heute Abend einige bissige Bemerkungen kaum verkneifen können.

 

Davon, dass Hartz IV – entlang einer Begrifflichkeitskette von der Disziplinierung der Ar­beitnehmer*innen über niedrigste Lohnstückkosten und höchste Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten der Lohnquote bis hin zum Niederkonkurrieren durch Druck zur inneren Abwertung – eine eigene Frontlinie im imperialistischen Wirtschaftskrieg gegen die südlichen Länder der Euro-Zone bildet, werde ich Sie weitgehend verschonen. Aber natürlich sollte diese Erkenntnis in Ihrem Hinterkopf verbleiben...

 

 

Wenn wir nunmehr beim Anfang beginnen wollen, sind zwei Anfänge aufzuführen:

 

Erstens...

 

Vor ziemlich genau zehn Jahren, am 1. Januar 2005 trat das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ in Kraft, aus dem das zweite Buch Sozialgesetzbuch, kurz: SGB II hervorging. Beides wird heute unter dem Schlagwort „Hartz IV“ subsumiert, ebenso die darauf beruhende Sozialleistung unter dem offiziellen Namen Arbeitslosen­geld II, kurz: Alg 2, bzw. das begleitende Sozialgeld.

 

Viele behaupten noch immer, dass das Arbeitslosengeld II aus der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hervorging. Korrekt ist: Die Arbeitslosenhilfe wurde abge­schafft – ja, man kann sogar sagen: sie wurde spurlos beseitigt.

 

Damit wurde nicht nur eine als Lohnersatzleistung zur Lebensstandardabsicherung konzi­pierte Sozialleistung für auf Dauer erwerbslos gestellte Arbeitnehmer*innen eliminiert, son­dern meines Erachtens gleich eine ganze Gerechtigkeitsstufe im sozialen Gefüge der Bun­desrepublik Deutschland ausradiert!

Interessanterweise ist das keineswegs meine eigene Überzeugung, denn als Befürworter eines Bedingungslosen Grundeinkommens bin ich vielmehr der Überzeugung, dass man zwischen beiden Gruppen keinen künstlichen Wesensunterschied konstruieren dürfte. Ich spreche vom Menschenbild einer Mehrheit in diesem Land, das besagt, man sollte in die Erwerbslosigkeit gestoßene, ehemals sozialversicherungspflichtig tätig gewesene Arbeit­nehmer*innen anders, und zwar besser behandeln als solche Menschen, die – so die kon­krete Formulierung – „nie gearbeitet haben“. Mir erschließt sich wirklich nicht, warum man eine – ohnehin nicht wirklich ernstgemeinte – Lebensstandardabsicherung davon abhän­gig machen sollte, dass schon einmal ein sogenannter Arbeitgeber so gnädig gewesen sein mochte, jemandes Arbeitskraft einzukaufen. Mir erschließt sich auch umgekehrt nicht, warum man junge Menschen, die ihre Arbeitskraft noch nie zum Wohle der Gesellschaft insgesamt und zu ihrer Selbstverwirklichung einsetzen durften, noch schlechter stellen sollte, als sie mit diesem Schicksal ohnehin dastehen – zumal sie von ihrer elterlichen Um­gebung auch einen gewissen Lebensstandard gewohnt gewesen sein mochten, welcher in der Sozialhilfe keineswegs berücksichtigt wurde.

 

Zweitens...

 

Hartz IV kann man sich als unterste Masche im sozialen Netz der Bundesrepublik Deutschland vorstellen. Man bekommt Arbeitslosengeld II allerdings nur auf Antrag...

 

Gemessen am Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzmini­mums, welches das Bundesverfassungsgericht vor ziemlich genau fünf Jahren, am 9. Februar 2010, aus der Taufe gehoben hatte, ist dieser Usus allerdings verfassungs­widrig. Zwar kann man den Antrag formlos bei jeder Behörde stellen, aber eigentlich müsste gelten, was auch schon zu Zeiten der Sozialhilfe Standard war, nämlich dass die Behörde nur Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit eines Menschen gewinnen muss, um die notwendige Hilfe freizugeben und in die Wege zu leiten. Tatsächlich garantiert allein ein solcher Modus operandi die nach Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz geforderte Ach­tung und den geforderten Schutz der Menschenwürde, der bzw. dem alle staatliche Ge­walt verpflichtet ist. Wir erleben aber immer wieder, dass Menschen abgewiesen werden, ohne ihnen auch nur ein konkretes Antragsformular auszuhändigen...

 

Jobcenter

 

Einige Zeit nach Inkrafttreten von Hartz IV wurde festgestellt, dass Jobcenter als Misch­verwaltungen mit Aufgaben sowohl nach Bundes- als auch nach kommunalem Recht ver­fassungswidrig sind, weil die Wähler*innen einen von ihnen erkannten Missstand nicht mit ihrer Stimmabgabe bei der einen für diese Verwaltungsebene stehenden Wahl abstellen könnten. Statt aber diesen verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen, wurde er in unver­änderter Gestalt als Artikel 91 e ins Grundgesetz aufgenommen!

Wie undurchsichtig die Verwaltungsstruktur des Jobcenters ist, bewies vor kurzem der Oberbürgermeister der Stadt Mainz. Als ich mich mit dem Anliegen an Michael Ebling wandte, die unmöglichen neuen Öffnungszeiten des Mainzer Jobcenters – Montag bis Freitag nur noch von 7:30 Uhr bis 12 Uhr – baldmöglichst wieder zurückzusetzen, verwies dieser mich im Wesentlichen an die „Trägerversammlung“ des Jobcenters – deren Vor­sitzender ein guter Bekannter von ihm ist, der Beigeordnete der Stadt Mainz, Kurt Merka­tor, was man allerdings auf der Homepage der Stadt Mainz nur aus einer heuteaktuellen Pressemitteilung erfahren kann...

Das Problem mit den absurden Öffnungszeiten ist übrigens bis heute ungelöst. Da das Jobcenter selbst viele Langzeiterwerbslose in Halbtagsmaßnahmen schickt, die überwie­gend den Vormittag nutzen, ist diese Regelung grotesk kontraproduktiv. Aufstockende Teilzeitbeschäftigte, die ebenfalls vormittags arbeiten, ausschließlich zu Kontakten in der halben Stunde vor 8 Uhr zu nötigen, ist doppelt belastend für die Betroffenen. Dass Lang­zeiterwerbslose und Aufstocker keine Lobby für sich selbst bilden, wundert seit den „Ar­beitslosen von Marienthal“ wohl niemanden mehr. Aber warum andere gesellschaftliche Gruppen, in erster Linie die Gewerkschaften, die Mitarbeiter*innen des Jobcenters und allen voran die sich selbst als Qualitätspresse verstehenden Medien keine Lobby für Ver­nunft, für gute Arbeit und und für einen menschenwürdigen Umgang mit den Betroffenen bilden, bleibt mir ein Mysterium.

Das Mainzer Jobcenter ist insofern ein besonderes, als es – wie nach absolutistischen Vorgaben – auf einen Hügel gebaut ist und Ankommende zwingt, wie Bittsteller den Trep­pensteig zum Rodelberg hinauf zu erklimmen. Ansonsten fehlt die von absolutistischen Bauwerken her gewohnte Pracht vollständig: Auf dem im Winter und bei Dauernässe teilweise sehr glatten Treppensteig kann man leicht stürzen; die Stufen sind windschief und nicht von einheitlichen Bausubstanz. Das Gebäude selbst musste – im laufenden Betrieb – vom darin verbauten Asbest befreit werden. Ob der Umzug in ein „Blauer Hein­rich“ genannte Bauwerk, unweit des Weisenauer Bettelpfades, eine Verbesserung wird, muss sich erst noch erweisen. Die neue Leiterin des Mainzer Jobcenters, Juliane Opalka, täte gut daran, sich mit einigen Weichenstellungen zum Besseren hin einen Namen zu machen.

 

Wie orientierungslos das Mainzer Jobcenter sich durch die Verhältnisse zu lavieren ver­sucht, kann man hervorragend an dem Brief deutlich machen, den Leistungs­mpfänger*in­nen derzeit zur Information über die im Leistungssystem ALLEGRO neu angelegte Be­darfsgemeinschaftsnummer erhalten haben. Das Corporate Design wird kaum bemüht. Die „Kundeninformation“ ist an Leistungsempfänger*innen „des SGB II“ gerichtet, anstatt  an Leistungsempfänger*innen nach (dem) SGB II.

Und solange sich an der unter anderen von Katja Kipping kritisierten „Ideologie hinter Hartz IV“, dem „Fördern und Fordern“, nichts ändert, sehe ich persönlich schwarz...

 

Diese Ideologie von Hartz IV macht sich am Gerede vom „Fördern und Fordern“ fest und wird als solche erkennbar anhand der Schizophrenie, dass man auf der einen Seite be­hauptet, gegen die „Hilfebedürftigkeit“, also für die Betroffenen zu agieren, auf der anderen Seite aber dringend notwendige Fördermittel immer mehr zusammenstreicht und zugleich mit der Etablierung eines „der besten Niedriglohnsektoren (…), den es in Europa gibt“, prahlt und also offen gegen die Betroffenen und deren Interessen agiert. Tatsächlich geht es gar nicht um die Betroffenen oder die Überwindung ihrer realen Not… Es geht um die „Unterwerfung“ der Betroffenen unter äußere Zwänge, die diese als Hilfe verstehen sollen.

 

Der Gehirnwäsche-Slogan vom „Fördern und Fordern“ hat sich inzwischen sogar bis in die Schulen hinein ausgebreitet. Wenn diejenigen – Schulleiter, Lehrer und Eltern –, die ihn so oft gedankenlos in ihrem Alltag wiederholen, damit wenigstens „Unterstützen und He­rausfordern“ meinen würden, hätte ich nichts dagegen. Sie verwenden ihn jedoch sehr wohl in der Regel in der Bedeutung seiner wahren Intention und meinen „Ködern und Quälen“ damit. Und dabei blicken sie „auf unsereins“ hinab und schließen sich der vor­herrschenden Ideologie an, Hartz IV-Empfänger seien faul, ungepflegt, müssten erzogen werden, assoziieren sich sozusagen mit der Unterdrückung durch das System und schrei­ben diese hierdurch mit und fort.

 

Aber auch wenn ich „Unterstützen und Herausfordern“ besser finde als „Ködern und Quä­len“, so würde ich auch dies maximal für schadlos und also noch lange nicht für hilfreich halten. Denn das Problem an der Massenerwerbslosigkeit, das sind eben nicht die Er­werbslosen, die es nur zu “verbessern“ gälte, wie das Hartz IV-Regime dies immer wieder kolportiert, sondern das ist der immer menschenverachtender wirkende „Arbeitsmarkt“ auf der einen und das Sozialgesetzbuch II, das diese regelrecht draußen hält, auf der anderen Seite.

 

Viele glauben, es ginge darum, die Leute in so große Verzweiflung zu bringen, dass sie schließlich bereit sind, mehr oder minder alles zu tun, um aus Hartz IV zu entkommen. Das kenne ich auch aus meiner Erfahrung. Im Angesicht einer Maßnahme sagte mir je­mand, er müsse jetzt schnell einen Job finden, egal wie schlecht bezahlt, Hauptsache, er müsste diese Maßnahme nicht mitmachen. Dass er damit genau das anstellt, was das System von ihm erwartet, war ihm nur mühselig beizubringen; dass – und was – man da­gegen unternehmen könne, gar nicht...

 

Aber dies ist nur die Oberfläche. Es geht vielmehr darum, dass Hartz IV mit aller Kraft die Betroffenen klein macht, klein hält, auf die geringstmöglichen Ansprüche an Leben und sozialer Teilhabe trimmt und darauf konditioniert, sich mit einem „Leben in Hartz IV“ und später in Altersarmut abzufinden, weil man ja selbst schuld an seiner Situation sei. Das beginnt mit der händeringenden Suche nach einem Job zur Umgehung einer Maßnahme.  Dass man die Misere selbst zu verschulden hat, glauben viele; sie identifizieren sich mit diesem sozial gewollten und die zunehmende Ungleichheit im Land ideologisch flankie­renden „Wahn“… Und eben dadurch „hält“ man die Menschen auch klein und mittels die­ser „Schuldfalle“ eben auch „fern“ vom Arbeitsmarkt, nämlich fern vom Marktplatz, wo die Arbeitnehmerin ihre Arbeitskraft anzubieten und ihre Ansprüche durchzusetzen hätte, sich unter keinen Umständen unter Wert verkaufen dürfte...

 

 

Es ging gerade durch die Presse, dass nach DGB-Berechnungen seit Einführung von Hartz IV bereits 15 Millionen verschiedene Menschen zumindest zeitweilig Arbeitslosen­geld II bezogen haben - bei immer noch mehr als sechs Millionen Menschen, die aktuell auf diese Form von Hilfe angewiesen sind. Nimmt man die Information dazu, dass der Niedriglohnsektor mit 24,3 Prozent der Beschäftigten in Deutschland heute so groß ist wie in keinem anderen hochentwickelten europäischen Land, zeigt das, dass – und wie gut –  diese Masche funktioniert!

 

Das ideologische Hauptinstrument der Jobcenter, den Langzeiterwerbslosen die Schuld an ihrer Erwerbslosigkeit in die Schuhe zu schieben, ist die Behauptung so genannter „Vermittlungshemmnisse“, also von in den Personen der Langzeiterwerbslosen oder deren Lebensumständen liegenden „Mängeln“, welche deren Vermittlung hemmen würden. Hier offenbart sich die ganze Ideologie im Kleinen, denn so etwas wie Vermittlung findet im Sinne des Wortes überhaupt nicht statt.

 

Den Langzeiterwerbslosen wird kein Kontakt vermittelt, der ihnen eine realistische Chance eröffnen würde, dass sie ihre Arbeitskraft wirklich so einsetzen könnten, wie es Paragraph 2, Absatz 2, Satz 2 des SGB II fordert: „Erwerbsfähige Leistungsberechtigte müssen ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und die mit ihnen in einer Be­darfsgemeinschaft lebenden Personen einsetzen.

 

Sie bekommen lediglich mehr oder minder passgenaue Stelleninformationen zugestellt und sollen sich – in immenser Konkurrenz zu vielen anderen – durch Bewerbungen um die betreffenden Stellen bemühen. Im Wesentlichen entsprechen diese Stelleninformationen dabei zwar den Stellenanzeigen, die man in Zeitungen, Online-Jobbörsen und an Schwar­zen Brettern findet. Aber ganz so einfach ist es eben nicht. Denn eine Stelleninformation ist keine unverbindliche Stellenanzeige. Eine verbindliche und überdies mit Rechtsbehelfs­belehrungen ausgestattete so genannte „Stelleninformation“ ist faktisch nichts anderes als eine vorläufig noch nicht vollzogene Sanktion!

 

Vermittlung

 

Im Mittelpunkt der Aufgaben eines Jobcenters, der Tätigkeit einer Jobvermittlerin oder ei­nes Jobvermittlers steht die Vermittlung der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen, den Lang­zeiterwerbslosen, in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem ersten Ar­beitsmarkt. Zugleich ist dies das zentrale Problem des Jobcenters, denn das so genannte „Fördern und Fordern“ ist bloße Ideologie und eine Vermittlung im eigentlichen Sinne des Wortes gar nicht vorgesehen, und sie gehört auch nicht zur Realität des Jobcenters. Zu einer Vermittlung gehört schließlich mehr als die Ermittlung eines Profils auf Seiten des „Kunden“ und die Suche nach passenden Stellen oder Unternehmen. Vermittlung bedeutet eigentlich, dass ein in ein spezifisches Unternehmen passender Langzeiterwerbsloser mit allen Mitteln ausgestattet wird, um ein passgenaues Einfügen in dessen Strukturen zu er­möglichen, während das Unternehmen auf das Eintreten eines spezifischen Arbeitneh­mers vorbereitet wird, das Qualifikationen bereitstellen muss und Ansprüche an maximal tolerable Flexibilität mit maximaler Unterstützung z. B. in puncto Kinderbetreuung flankie­ren muss. Der Jobvermittler als Manager dieses Vorgangs müsste mit allen arbeitsmarkt­politischen Instrumenten diese Prozesse harmonisch lenken und zusammenführen. Ent­scheidend darin wäre der Einfluss auf beide Seiten, woraus natürlich keine Repression entstehen darf, aber auch die Augenhöhe aller drei beteiligten Parteien. Am wichtigsten wäre eine Verbindlichkeit auch für Unternehmen, denn unter den heutigen Bedingungen werden sie nicht nur von Sanktionen verschont, sondern im Hinblick auf optimale Ausbeu­tung von Langzeiterwerbslosen – also vor allem bei der Ausnahme vom Mindestlohn bei Langzeiterwerbslosen – regelrecht hofiert – zum Schaden der gesamten Volkswirtschaf. Sie profitieren nicht nur von der Ausnahme an sich, sondern können sie auch noch syste­misch ausnutzen, indem sie die Arbeitskraft der Langzeiterwerbslosen nur für sechs Mo­nate in Anspruch nehmen, in denen diese kein Recht auf einen Mindestlohn zugesprochen bekommen, sie dann entlassen und die nächsten Langzeiterwerbslosen für ein halbes Jahr einstellen.

 

Der ideale Jobvermittler hätte also ein Interesse, den vor ihm sitzenden Langzeiterwerbs­losen auf die optimal passende, von ihm höchstpersönlich identifizierte freie Stelle zu ver­mitteln, ihn also anzupreisen, Vorschläge zur Passgenauigkeit seitens des Bewerbers zu machen, unterstützende Maßnahmen wie etwa Tipps zum Schreiben der perfekten Bewer­bung und alle nötigen Finanzierungsmöglichkeiten bereitzustellen und sich abschließend darüber zu freuen, wenn freie Stelle und Bewerber zusammengefunden haben.

 

Das ist aber gar nicht das Anliegen des Jobvermittlers – zumindest nicht in systemischer Hinsicht. Denn was geschieht nach der unausgesprochenen Sanktionsdrohung durch die „Stelleninformation“ als nächstes? Bewirbt sich der Langzeiterwerbslose ohne wichtigen Grund nicht oder nicht rechtzeitig auf die Stelle, auf die man ihn ohne reale Gelingensaus­sicht zu zwingen versucht, tritt umgehend eine Kürzung des ohnehin zu niedrigen Arbeits­losengeldes II ein.

 

Dieses System ist deshalb so perfide, weil ein und dieselbe Stelleninformation mehreren, unter Umständen sogar vielen Erwerbslosen im ganzen Bundesgebiet zugewiesen wird. So kann eine einzige Sanktionsandrohung in Gestalt vieler Stelleninformationen gleich mehrere Sanktionen generieren, also Einsparerfolge realisieren, wenn es für die Controller der Jobcenter „gut läuft“.

 

Im Sinne derselben „gute Kunden“ sind also solche Langzeiterwerbslosen, die auf nicht hundertprozentig passgenaue Stelleninformationen mit Unlust reagieren, werbeträchtige Formulierungen beim Versuch, sich selbst anzupreisen, nicht so gekonnt draufhaben oder mit Trotz oder gar Alkoholmissbrauch reagieren, wenn sie – salopp gesagt – mit der Ge­samtsituation unzufrieden sind bzw. unzufrieden gemacht worden sind!

 

Das Wichtigste an „Vermittlungshemmnissen“ dieser Art ist daher auch gar nicht, dass sie irgendwann beseitigt werden. Sie werden nur behauptet – und dadurch wird ein immenses gesellschaftliches Problem gekonnt „personalisiert“. „Vermittlungshemmnisse“ werden schon vorab identifiziert und wirken sich somit während der gesamten „Verfolgungsbetreu­ung“ auf die Seele der Betroffenen aus.

 

Jobvermittler werden in der Regel nicht erst darauf warten, dass sich anhand konkret ge­scheiterter Bewerbungsbemühungen vermeintlich genau aufklären lässt, woran der Miss­erfolg gelegen habe. Stattdessen wird gleich aus dem ersten Profiling bei der Arbeitsu­chend-Meldung das Vermittlungshemmnis als Vermutung „ermittelt“ und hiernach in alle künftigen Bewerbungsaussichten hineinprojiziert.

 

Die daraus resultierenden berüchtigten Bewerbertrainings – ich wähle bewusst die Mehr­zahl, denn viele machen mehrere dieser Trainings hintereinander – dienen also nicht der Aussicht, dass man irgendwann perfekte Bewerbungen produzieren könnte, sondern sind dazu da, von vornherein klarzustellen, dass das Scheitern einer Bewerbung an einem selbst gelegen habe – an in deiner Person oder in deinen Lebensverhältnissen begründe­ten „Defiziten“, den „Vermittlungshemmnissen“, weil man so das bloße Rütteln und Sieben der Jobvermittler an der großen Jobbörse als „Vermittlungstätigkeit“ qualifizieren kann.

An keinem Punkt geht es wirklich um „den Menschen“, sondern darum, diesen entweder zu brechen und/oder zur Identifikation mit seiner fortdauernden Unterdrückung zu bringen. Wo das aber gelingt, wehrt sich niemand mehr gegen dieses Regime, denn dann glauben es alle: Ich bin offenbar selbst schuld, habe es inzwischen oft genug am eigenen Leibe er­fahren und erlebt…

 

Dabei reden wir allenfalls über Einstellungshürden, also über klar aus der Subjektivität von Arbeitgebern heraus gedachte Barrieren. Das hat zwei Hintergründe: Erstens bedeu­tet die herrschende Massenerwerbslosigkeit, dass Unternehmer sich ihre Arbeitskräfte, denen sie dauerhaft einen Arbeitsplatz einräumen, unverändert frei aussuchen können und dürfen. Zweitens kann der Druck, auf bestimmte Ansprüche verzichten oder sich ge­forderte Qualifikationen nachträglich verschaffen zu müssen, auf die Stellenbewerber bzw. auf die Gesellschaft abgeschoben werden.

 

Ausgerechnet das krasseste Vermittlungshemmnis wird dabei von der Gesellschaft weit­gehend vernachlässigt, weil es so fest im System verankert ist, dass man es quasi über­sehen muss: Vor zehn Jahren hieß es neben den anderen Versprechungen auch, dass man „Verschiebebahnhöfe“ abschaffen und die „Betreuung aus einer Hand“ anstreben würde. Aber wer in der Regel zwölf Monate erwerbslos war und dann von der Agentur für Arbeit zum Jobcenter wechselt, dem wird umgehend als erstes „Vermittlungshemmnis“ seine „Langzeiterwerbslosigkeit“ attestiert – und das war‘s dann eigentlich auch schon, denn dieses „Vermittlungshemmnis“ wird man nicht wieder los – zumindest nicht ohne existenzsichernden Job, der einen aber gleich komplett aus der Erwerbslosigkeit heraus­katapultieren würde.

 

Das Problem ist natürlich, dass die meisten Umstände, die den Betroffenen als in ihnen selbst angelegte Ursachen ihrer Erwerbslosigkeit verkauft werden, durchaus real sind: Alleinerziehende haben schlicht Kinder, deren Betreuung möglicherweise nicht ideal –  zumindest nicht so ideal wie beispielsweise bei der siebenfachen Mutter Ursula von der Leyen, der früheren Bundesministerin für Arbeit und Soziales – gewährleistet ist. Und auch Schulden sind real und drücken so lange, bis eine Schuldnerberatung vielleicht einen Weg zur Lösung der Probleme gefunden hat. Und auch manche Qualifikation hätte man halt wirklich gerne, sobald man sich erst einmal in eine bestimmte Richtung orientiert hat.

 

Aber warum wird der alleinerziehenden Mutter oder dem alleinerziehenden Vater weis­gemacht, sie würden keine Stelle finden, weil sie ein „Problem“ mitbrächten? Umgekehrt wird ein Schuh daraus! SämtlicheArbeitgeber sind nicht willens oder in der Lage, ihr oder ihm einen passenden Arbeitsplatz anzubieten, um hierdurch den Lebensunterhalt von sich und den Kindern zu erwirtschaften. Und warum müssen Schulden drücken, die aller Wahr­scheinlichkeit nach bereits auf eine Erwerbslosigkeit oder eben prekäre Beschäftigung zu­rückzuführen sind, also ebenfalls aufs Konto der Arbeitgeber und der gesellschaftlichen Verhältnisse gehen? Und warum finanziert nicht der Arbeitgeber, bei dem man letztlich eingestellt werden soll, die Qualifikation, die notwendig ist, um Mitarbeiter für die Arbeit in jenem Unternehmen „passgenau“ auszubilden? Dass über diesen „Wahnsinn der Normali­tät“ hinaus die Arbeitgeber auch noch ihr Märchen vom „Fachkräftemangel“ von sich geben, regt mich auf bis zur Weißglut!

 

Ich denke, unsere Gegenstrategie muss individuelle und gewerkschaftliche Aufklärung so­wie die Entwicklung eines Arbeitnehmerselbstbewusstseins oder besser gleich eines Klas­senbewusstseins forcieren!

 

 

Dazu gehört auch die Einbeziehung des vorhin schon angesprochenen Paragraphen 2, Absatz 2, Satz 2, SGB II mit seiner Muss-Vorschrift zum Einsatz der Arbeitskraft in den Fokus unserer Kritik – und zwar im Sinne eines Lebensunterhalts nach eigenem An­spruch, um das klarzustellen!

 

Dazu gehört bei uns in Rheinland-Pfalz auch das Insistieren auf den Artikel 56 der Lan­desverfassung, der bestimmt, dass das Arbeitsentgelt zum Lebensbedarf für den Arbeiten­den und für seine Familie ausreichen und diesen die Teilnahme an den allgemeinen Kul­turgütern ermöglichen muss.

 

Und es gehört der gewerkschaftlich koordinierte Kampf um Arbeitszeitverkürzung auf die von Attac europaweit geforderte 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalaus­gleich dazu. Die Lohnausgleichforderung ist bekannt; sie verhindert Lohneinbußen im Zu­ge einer Arbeitszeitverkürzung. Die zusätzliche Forderung nach einem Personalausgleich ist eine der Lehren aus der Einführung der 35-Stunden-Woche und soll rein profitwah­rungsorientierte Gegenmaßnahmen der Arbeitgeber wie Rationalisierungen und Arbeits­verdichtung im Zuge der Arbeitszeitverkürzung verhindern.

 

Ich selbst drehe den Spieß einfach um und mache nach dem Motto „Kompensation für die Hartz IV-Deprivation“ im Rahmen meiner Möglichkeiten allen Beteiligten immer wieder klar, dass meine Lohnansprüche an zukünftige Arbeitgeber mit jedem Jahr unter den Be­dingungen von Hartz IV weiter steigen. Dieses die Technokraten der Hartz-Kommission persiflierende Motto bedeutet schlicht, dass ich für die unter Hartz IV-Bedingungen erlitte­nen Mängel einen angemessenen Schadenersatz verlange. Über Stellenange­bote mit ei­ner Bezahlung zum gerade eingeführten gesetzlichen Mindestlohn – oder gar darunter – kann ich nur lachen...

 

multiple Vermittlungshemmnisse

 

Es existiert aber noch eine Steigerung der Perfidie der „Vermittlungshemmnisse“: Nach­dem man den „Kunden“ des Jobcenters vermittelt hat, dass sie an ihrer Erwerbslosigkeit selbst schuld seien, verkauft man es ihnen anschließend als besondere Chance, wenn sie mehr als ein spezifisches „Vermittlungshemmnis“ aufweisen. Wer „multiple Vermittlungs­hemmnisse“ aufweist, kann einen leichteren Zugang zu Fördermaßnahmen erlangen. Für eine Übernahme ins so genannte Fallmanagement, also die intensivere und ggf. nachsich­tigere, im Glücksfall vielleicht sogar etwas großzügigere Betreuung, gilt das Vorhanden­sein von „drei voneinander abgrenzbaren, schwerwiegenden Vermittlungshemmnissen“ als notwendiges Kriterium.

 

Mit einem „Vermittlungshemmnis“ bekommt man die Schuld an der Erwerbslosigkeit auf­geladen, mit drei „Vermittlungshemmnisen“ wird einem aber – vermeintlich – die Himmels­pforte zur Glückseligkeit aufgestoßen! Umso mehr man sich also identifiziert und unter­wirft, umso mehr Pseudohilfe wird einem zuteil…

 

 

 

Wo sind die Fördermittel?

 

Das größte Problem besteht daraus, dass diese Maßnahmen – selbst wenn sie nur der Befriedung oder besser: Ruhigstellung der Betroffenen dienen sollten – immer weniger zielführend angeboten werden können, weil die Bundesregierung die Fördermittel über die Zeit immer mehr zusammenstreicht: Maßnahmen werden verkürzt, für die Zertifizierung werden Mittel verschwendet, die besser in die Maßnahmen investiert  worden wären. Wirk­lich qualifizierende Maßnahmen und Weiterbildungsangebote wurden als erstes aus der KURSNET-Datenbank herausgefiltert.

 

Grundrechte vs. Dienstanweisungen

 

Obwohl es seit fünf Jahren ein explizites Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen­würdigen Existenzminimums gibt und Hartz IV schon seit zehn Jahren in Kraft ist, gab es kaum Fortschritte beim allgemeinen Ausbildungsstand der Mitarbeiter*innen der Jobcen­ter. Legendär geworden sind die von den Auffanggesellschaften der privatisierten Staats­betriebe Post und Telekom ausgeliehenen Mitarbeiter*innen, die nach einem Crash-Kurs über wenige Wochen auf die Menschheit losgelassen wurden. Gerade erst vor einem Mo­nat habe ich einen netten Kollegen aus diesem Bereich kennengelernt. Er hatte sich mitt­lerweile gut in die Materie eingearbeitet – aber einen Grund-Unmut kann er gar nicht ver­hindern, weil er in einem Bereich arbeitet, in dem längere Arbeitszeiten gelten als im Be­reich des verleihenden Unternehmens – d. h. ganz einfach, dass er Arbeitsstunden leistet, für die er niemals Lohn erhalten wird oder gar einklagen könnte...

 

Als Beistand habe ich aber auch schon zu hören bekommen: „Ich weiß doch nicht, was im Gesetz drinsteht!“ Da war selbst ich baff! Tatsächlich ist es für vereinzelte Schritte der ver­schiedenen Prozeduren nicht notwendig zu wissen, was das Gesetz im Wortlaut besagt. Für gewisse Schritte entwickelt man sehr schnell Routine. Anderswo ist die Dienstanwei­sung hinreichend genau oder das Programm A2LL bzw. neu: ALLEGRO lässt gewisse Optionen unter bestimmten, von der Sachbearbeiterin eingegebenen Voraussetzungen gar nicht mehr zu. Aber wie will man einen Ermessensspielraum angemessen abwägen, wenn man nicht einmal versteht, was der Unterschied zwischen Ermessensspielraum und Willkür ist? Wenn man die Grenzen und vor allem die Freiheiten nicht erahnt, die es der Mitarbeiterin ermöglichen, ihrem Beruf nachzukommen – und nicht zum Rädchen in einer Maschine zu werden, die darauf ausgelegt ist, Menschen, die nicht zu den Reintegrations­ansichten der Herrschenden passen, auf solch menschenunwürdige Weise passend zu machen?!

 

 

Bildung und Teilhabe im Paket

 

Wie grundlegend der Gesetzgeber an dieser Voraussetzung scheitert, zeigt das Bildungs- und Teilhabepaket. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus der Taufe gehoben, das expressis verbis gesellschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe vorsieht. Alle Vorgaben, die Teilhabe betreffend, müssten also geschlossen im Rahmen des Regelbedarfs berücksichtigt werden, da dieser für die Teilhabe vorgesehen ist. Stattdessen wurden mehrtägige und inzwischen auch eintägige Klassenfahrten, Schul­essen, Schulbeförderung etc. in das Bildungs- und Teilhabepaket ausgelagert und hinter neuen Hürden des Antragserfordernisses gestellt. Manche Eltern schaffen es nicht oder machen Fehler damit – nicht alle können das 67-seitige Handbuch zur Bearbeitung von BuT-Anträgen aus dem Internet herunterladen, durcharbeiten, ggf. eine unabhängige Be­ratungsstelle aufsuchen und dann alle Papiere fehlerfrei durchorganisiert einreichen. Mittel aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, die nicht abgerufen worden sind, fließen in den Haushalt der Kommune (sofern das nicht mittlerweile abgestellt wurde).

 

 

Bürokratismus

 

Die Arbeitsweise des Jobcenters basiert also auf einem Bürokratismus, der sich aus der Relation der Langzeiterwerbslosen und der offenen Stellen ergibt: da das System prinzi­piell nicht auf dieses Problem ausgerichtet ist, aber aufgrund von Gesetzen und Dienst­anweisungen unvermindert das Programm für eine rein virtuelle Arbeitsmarktsituation ab­spult, entwickelt sich eine zerstörerische Dynamik zu Lasten der Betroffenen.

 

Ich würde mir wünschen, die deutschen Jobcenter-Mitarbeiter*innen würden dem Beispiel ihrer französischen Kolleg*innen folgen und sich wenigstens weigern, Sanktionen zu ver­hängen!

 

 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Die pdf zu diesem Artikel finden Sie hier.