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Rheinland-Pfalz: Der Kulturwandel ist eingeleitet

Rheinland-Pfalz kann auf 15 Jahre Beteiligungskultur blicken. Rot-Grün hat ab 2011 vor allem durch die Enquete-Kommission, die Reform des Wahlrechts und ein neues Integrationsministerium Akzente gesetzt.

Im Vorwort zum 2011 erschienenen Band "Mehr Bürgerbeteiligung wagen"[1] schreibt der damalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck: “Die Gretchenfrage der Bürgerbeteiligung lautet, zählt meine Meinung wirklich?” – In der Tat ist dies die Sorge, die alle in Beteiligungsverfahren Engagierten umtreibt. Lohnt sich mein Einsatz überhaupt? Hat meine Stimme irgendein politisches Gewicht? Oder diene ich nur als Feigenblatt zur Minimierung politischer Reibungsverluste und als Legitimationsbeschaffer einer unter Entscheidungsdruck geratenen Regierung? Rheinland-Pfalz hat zumindest den Versuch unternommen, den Korrosionserscheinungen repräsentativer Demokratie entgegenzutreten. Doch die Bilanz fällt zwiespältig aus.

Mit der Jahrtausendwende hat “Bürgerschaftliches Engagement” in der öffentlichen Diskussion eine starke Aufwertung erfahren. Dies galt auch für Rheinland-Pfalz, wo Kurt Beck als Ministerpräsident schon früh bemüht war, dem Leitbild “Bürgergesellschaft” durch konkrete Maßnahmen und Programme Gestalt zu geben.[2] Ausschlaggebend für den “rheinland-pfälzischen Weg” war der Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags “Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements”[3], mit dem die Kommission einen neuen Referenzrahmen schuf und Bürgerengagement und Partizipation zumindest kurzfristig ins Zentrum der politischen Diskussion über Zukunft und Zusammenhalt der Gesellschaft rückte.

Engagement wurde hier nicht mehr allein aus der individuellen Perspektive des einzelnen Ehrenamtlichen thematisiert, sondern aus seinen institutionellen Bezügen und gesellschaftspolitischen Dimensionen heraus beschrieben. Damit wurde ein weitreichender Umbau von staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen in den Blick genommen, um eine neue Verantwortungsbalance zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft zu fordern sowie Dimensionen eines neuen Gesellschaftsvertrages abzustecken.

In diesem Kontext begann Rheinland-Pfalz, bürgerschaftliches Engagement als eigenständiges Politikfeld zu entdecken. Die strategische Verankerung in der Staatskanzlei wurde eng gekoppelt an die Politik des Ministerpräsidenten. Engagementförderung avancierte zum Querschnittsthema mit hoher Priorität.

“Für unsere Zukunft, für uns alle”

Auch die demokratiepolitischen Facetten des bürgerschaftlichen Engagements gewannen an Aufmerksamkeit. Erste positive Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung an landespolitischen Entscheidungen (Planungszellen, Bürgerkongresse) bereiteten den Boden für die Intensivierung von Partizipationsprozessen und ließen Konturen einer rheinland-pfälzischen Engagement- und Demokratiepolitik erkennen.

Gelungene Ressorterfahrungen mit Bürgerbeteiligung sowie die Überzeugung, dass eine Einbindung der Menschen in landespolitische Entscheidungen Akzeptanz, Effizienz und Nachhaltigkeit von Politik erhöhen können, führten zur Etablierung einer Beteiligungskultur. Dabei waren drei Verfahren von besonderer Bedeutung:

2004 wurden unter Federführung der damaligen Sozialministerin Malu Dreyer (SPD) gute Erfahrungen mit dem Beteiligungsinstrument “Planungszelle” gesammelt und in Vorschläge zur Gestaltung des demografischen Wandels überführt.

Mit der fünfteiligen Bürgerkongressreihe “Für unsere Zukunft, für uns alle” wurde auf Anregung Kurt Becks 2005 der Versuch unternommen, im direkten Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern eine neue Kultur des Miteinanders zu entwickeln. Die Ergebnisse des dort erarbeiteten Zukunftsmanifests haben einen spürbaren Niederschlag in der Landespolitik gefunden. So wurden etwa die Ausländerbeiräte in Beiräte für Migration und Integration umgewandelt und ihre Einflussmöglichkeiten erheblich verbessert.

Ein Quantensprung rheinland-pfälzischer Bürgerbeteiligung wurde sicherlich mit der Erneuerung der Kommunal- und Verwaltungsstrukturen als zentrales Reformvorhaben der Landesregierung 2007 bis 2010 erreicht. Mit einem breit angelegten Beteiligungsprozess (Anhörungen, Planungszellen, Bürgerkongresse, Repräsentativbefragung, Onlinebefragung) haben sich die Bürgerinnen und Bürger direkt zu Wort melden können und ihre Erwartungen an die Modernisierung der Verwaltung formuliert.

Weit oben auf der politischen Agenda

Durch den klug angesetzten Beteiligungsprozess gelang es, die geäußerten Erwartungen an die Reform in hohem Maße mit den Regierungsschwerpunkten in Übereinstimmung zu bringen. Bei notwendigen Gebietsänderungen hatten freiwillige Lösungen Vorrang und mit der Absenkung der erforderlichen Quoren für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide wurden die Hürden für eine direktdemokratische Beteiligung in den Gemeinden gesenkt. Eine sogenannte Experimentierklausel ermutigte die Kommunen darüber hinaus, neue Formen der Bürgerbeteiligung und Bürgermitwirkung auszuprobieren.

Dieser spürbare Aufbruch in eine Beteiligungskultur fand 2010 ein jähes Ende, als die Umsetzung der Reform vor Ort letztlich ohne relevante Mitbestimmung vollzogen wurde. Die Landesregierung verpasste die Chance, durch die Bereitstellung von Unterstützungsstrukturen Beteiligungsprozesse in den Kommunen weiter zu fördern.

Dennoch wurde dem Land in der politikwissenschaftlichen Forschung eine positive beteiligungsorientierte Entwicklung bescheinigt.[4] Eine vergleichende Untersuchung von Länderaktivitäten verortet Rheinland-Pfalz zwischen dem “symbolisch-diskursiven” und “integriert-prozeduralen” Typ. Damit ist es dem Land gelungen, Einzelmaßnahmen und Instrumente zu einer umfassenden Gesamtstrategie der Förderung bürgerschaftlichen Engagements zusammenzufassen und insgesamt das Thema auf der politischen Agenda weit nach oben zu rücken.[5]

Mehr Bürgerbeteiligung unter Rot-Grün?

2011 bildete sich erstmals in Rheinland-Pfalz eine rot-grüne Regierung. Unter der Überschrift “Den sozial-ökologischen Wandel gestalten” enthält der Koalitionsvertrag weitreichende Vorhaben zur Weiterentwicklung der Demokratie durch Stärkung und Ausbau von Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung: Einführung des Wahlrechts ab 16, Wahlrecht für EU-Bürgerinnen und -bürger auf Landesebene sowie für länger im Land lebende Ausländerinnen und Ausländer auf kommunaler Ebene, die Entwicklung eines Dialog- und Beteiligungskonzeptes für raumplanerische Großprojekte sowie der Abbau von Hürden für direktdemokratische Beteiligungsmöglichkeiten. Ein ganzes Bündel an Maßnahmen wurde bereits umgesetzt.

Die hohen Ansprüche an Teilhabe und Beteiligung finden ihren Niederschlag auch in der Einrichtung eines “Integrationsministeriums” unter grüner Führung. Dessen Agenda reicht von der interkulturellen Öffnung der Bildungsinstitutionen und der öffentlichen Verwaltung über die verstärkte Übernahme von Migrantinnen und Migranten in den öffentlichen Dienst bis hin zur Abschaffung der Optionspflicht sowie der Residenzpflicht für Asylbewerberinnen und Asylbewerber.

Doch auf der praktisch-politischen Ebene fiel die Regierung hinter den proklamierten Anspruch zurück. Gleich zwei Großprojekte von erheblicher öffentlicher Bedeutung, die von Kontroversen und kritischen Auseinandersetzungen begleitet wurden – der Hochmoselübergang und die Mittelrheinbrücke –, wurden ohne eine Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger entschieden.

Im November 2011 konstituierte sich die Enquete-Kommission “Aktive Bürgerbeteiligung für eine starke Demokratie” des rheinland-pfälzischen Landtags unter grünem Vorsitz. Die Kommission gilt seither über die Landesgrenzen hinaus als Referenzmodell für demokratiepolitische Zukunftsüberlegungen in Deutschland. Mit ihrem Titel bezieht sie bereits positiv Stellung zum Verhältnis von repräsentativer Demokratie und Bürgerbeteiligung. In der Bandbreite der bearbeiteten Themen macht sie deutlich, dass es Politikprozesse über die Stärkung konsultativer und deliberativer Verfahren hinaus in den Blick zu nehmen gilt – zum Beispiel neue Formen digitaler Demokratie oder Themen der Beteiligung bei Großprojekten sowie die schwierigen Fragen sozialer Ungleichheit in Beteiligungskontexten. Zugleich lebt die Enquete-Kommission vor, wie auch im parlamentarischen Raum mehr Transparenz und Beteiligung möglich ist. Abzuwarten bleibt, auf welche dieser Empfehlungen sich die Kommission verständigen und welche dieser Empfehlungen die Landesregierung aufgreifen wird.

Bestimmte Themen wurden ausgeklammert

Parallel dazu wurden Beteiligungsansätze im fortlaufenden Regierungshandeln mit einem Schwerpunkt auf Kindern und Jugendlichen weiterentwickelt, wie das von der Bertelsmann Stiftung und Staatskanzlei entwickelte Jugendbeteiligungsprojekt “jugendforum rlp”. Auch die seit 2006 stattfindenden Demokratie-Tage fokussieren auf die Beteiligung junger Menschen.

Aufseiten des grünen Koalitionspartners sticht das Beteiligungsprojekt “Nationalpark Hunsrück-Hochwald” besonders hervor. Laut Koalitionsvertrag sollte Rheinland-Pfalz auch einen eigenen Nationalpark erhalten. Unter Federführung des grünen Umweltministeriums gelang es in einem mehrstufigen Beteiligungsprozess (Info-Telefon, Online-Dialog, Bürgerforen sowie offene und gut besuchte Dialogveranstaltungen), Argumente von Kritikern und Befürwortern derart zu vermitteln, dass die Einrichtung des umstrittenen Nationalparks nicht nur möglich wurde, sondern auch auf breiten Konsens stößt.

Anders sieht es beim Ausbau der Bundesstraße 10 in der Südwestpfalz aus, der seit Jahren für heftige Auseinandersetzungen sorgt. Während sich die rote Alleinregierung bis 2011 für den Ausbau engagierte, waren die Grünen grundsätzlich dagegen. Im Koalitionsvertrag wurde die Wiederaufnahme des Mediationsverfahrens von 2004 vereinbart, das unter politisch höchst schwierigen Bedingungen stattfand: Die Dauer war auf maximal sechs Monate begrenzt, die Verhandlungen nicht vertraulich, bestimmte Themen wurden ausgeklammert und es gab nur begrenzte Ergebnisoffenheit. Damit wurde gegen allgemein anerkannte Erfolgsfaktoren für derartige Verfahren verstoßen. Ein von allen Beteiligten mitgetragener Kompromiss konnte letztlich nicht erzielt werden; die Konfliktparteien befinden sich weiterhin im Streit. Die Grünen – insbesondere die grüne Wirtschaftsministerin – tragen den Ausbau mit und stehen dafür in wachsender Kritik durch die grüne Basis (ähnlich wie beim Thema Energiewende).

Demokratie und Partizipation bleiben “Chefsache”

Mit dem Wechsel an der Spitze der Landesregierung zu Malu Dreyer 2013 bleibt das Thema Bürgerbeteiligung “Chefsache”. Sie bekennt sich nicht nur zu mehr Demokratie und Partizipation, sondern forciert darüber hinaus mit der Ankündigung eines “Fahrplans Bürgerbeteiligung” und eines Transparenzgesetzes auch deren praktische Entwicklung. Als langjährige Sozialministerin konnte Dreyer gute Erfahrungen mit Beteiligungsverfahren sammeln. Ausgehend von der Überzeugung, dass Demokratie eine Sache mündiger und gut informierter Bürgerinnen und Bürger ist, sollen nun Vorhaben und Entscheidungsgrundlagen von Politik und Verwaltung durch das Transparenzgesetz nachvollziehbarer gemacht werden. Damit wird ein Kulturwandel hin zu einer offenen und digitalen Verwaltung eingeleitet. Bemerkenswert an diesem Prozess ist, dass die Erarbeitung des Transparenzgesetzes selbst durch einen Beteiligungsprozess begleitet wird.

Mehr Transparenz im Regierungshandeln ist nicht nur ein Anliegen der Ministerpräsidentin, sondern auch Herzenssache des grünen Koalitionspartners. Dass auch ein Wettbewerb über die Definitionshoheit zwischen beiden besteht, ist nicht zu übersehen. Ein Spannungsverhältnis lässt sich auch bei dem von Dreyer angekündigten “Fahrplan Bürgerbeteiligung” als umfassende Landesstrategie erkennen. Er soll nun nicht in der Mitte der Legislaturperiode wirksam werden, sondern auf die Empfehlungen der Enquete-Kommission aufsetzen. Damit hat der grüne Koalitionspartner Richtung und Gestaltung nun maßgeblich in der Hand.

Unerwähnt blieb bisher, dass Bürgerbeteiligung auch bei dem – vor allem für die Grünen – zentralen Reformprojekt “Energiewende” eine erhebliche Rolle spielt bzw. spielen müsste. Forcieren die Grünen als Teil der Landesregierung den Ausbau erneuerbarer Energien (vor allem der Windenergie), geraten sie an der grünen Basis hierfür zunehmend unter Druck. Daran zeigt sich das ganze grüne Dilemma eines sozial-ökologischen Umbaus von Rheinland-Pfalz.

Insgesamt lässt sich resümieren, dass Rheinland-Pfalz in den vergangenen 15 Jahren auf dem Weg zu einer integrativen Beteiligungskultur ein gutes Stück vorangekommen ist. Auch unter dem Paradigma “Nachhaltigkeit” sind Engagement und Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger für eine “sozial gerechte, ökologisch verantwortliche und ökonomisch erfolgreiche Politik” sichtbarer Bestandteil eines erweiterten Politikverständnisses geworden. Dabei hat die seit den 1990er-Jahren regierende SPD der Engagement- und Beteiligungspolitik ihren Stempel aufdrücken können. Unter grüner Regierungsbeteiligung seit 2011 wurden insbesondere durch die Enquete-Kommission noch einmal neue, starke Akzente gesetzt. Ein Copyright auf Bürgerbeteiligung haben die Grünen in Rheinland-Pfalz jedoch nicht.

 


[1]          Beck, K. / Ziekow, J. (Hrsg.) (2011): Mehr Bürgerbeteiligung wagen. Wege zur Vitalisierung der Demokratie, Wiesbaden, S. 13.

[2]          Vgl. Beck, K. (2000): Bürgerschaftliches Engagement zwischen Tradition und Aufbruch, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg. 13, Heft 2, S. 15–21.

[3]          Enquete-Kommission “Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements” (Hrsg.) (2002): Bericht. Bürgerschaftliches Engagement: Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft, Opladen.

[4]          Vgl. Schmid, J. (unter Mitarbeit von Brickenstein, C.) (2009): Engagementpolitik auf Landesebene – Genese und Strukturierung eines Politikfeldes, in: Olk, T. / Klein, A. / Hartnuß, B. (Hrsg.): Engagementpolitik. Die Entwicklung der Zivilgesellschaft als politische Aufgabe. Wiesbaden.

[5]          Der erste Abschnitt dieses Beitrags greift in Teilen auf zwei Publikationen von Frank Heuberger und Birger Hartnuß zurück: Heuberger, Frank W. (2011): Länder, in: Olk, Thomas / Hartnuß, Birger (Hrsg.): Handbuch Bürgerschaftliches Engagement, Juventa Verlag, Weinheim / München; sowie: Heuberger, Frank W. / Hartnuß, Birger (2010): Vom Bürgerschaftlichen Engagement zur Engagementpolitik: Entwicklungsetappen der Bürgergesellschaft in Rheinland-Pfalz, in: Sarcinelli, Ulrich / Falter, Jürgen W. / Mielke, Gerd / Benzner, Bodo (Hrsg.): Politik in Rheinland-Pfalz – Gesellschaft, Staat und Demokratie, Springer VS, Heidelberg.

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons Lizenz.

Autor: Frank Heuberger